Reisezeiten mit der Bahn, die im Zusammenhang mit der Überführung von neuen Nutzfahrzeugen anfallen, sind Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes. Dies entschied jetzt das VG Lüneburg. Entscheidend sei, ob der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt, denn das beschränke den Arbeitnehmer darin, selbst über seine Zeit zu bestimmen.

Vor dem Verwaltungsgericht (VG) Lüneburg hatte ein Speditionsunternehmen geklagt, das auf die Überführung von Fahrzeugen spezialisiert ist. Die Mitarbeiter des Unternehmens fahren für die Überführung mit Taxi und Bahn zum jeweiligen Abholort des Fahrzeuges und dann in dem Fahrzeug zum Zielort. Vom Zielort aus fahren sie sodann mit der Bahn zurück zu ihrem Wohnort. Hierfür stellt der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern eine BahnCard 100 (1. Klasse) zur Verfügung. Die bis zu zwölfstündigen Bahnfahrten werden selbstständig von den Arbeitnehmern geplant. Dennoch müssen sie sich während der Bahnfahrt zur Verfügung halten und telefonisch erreichbar sein, um gegebenenfalls umzudisponieren, die Fahrt abzubrechen oder einen anderen Kunden aufzusuchen. Zudem müssen sie unter anderem die Überführungspapiere, Schutzbezüge zur Nutzung im Überführungsfahrzeug sowie Mautboxen mit sich führen. Ansonsten dürfen die Mitarbeiter die Fahrtzeit frei gestalten. Schlafen ist dabei ebenso gestattet wie Essen und Trinken.

Infolge einer Systemprüfung durch das zuständige Gewerbeaufsichtsamt wurde das Unternehmen unter anderem zum beabsichtigten Erlass von Anordnungen zur Dokumentation von Arbeitszeitnachweisen und der Erfassung von Reisezeiten zur Abholung der Fahrzeuge als Arbeitszeit vor dem VG Lüneburg angehört. Daraufhin gab das Gewerbeaufsichtsamt dem Speditionsunternehmen mittels Bescheid auf, sicherzustellen, dass die zulässigen Höchstarbeitszeiten im Unternehmen eingehalten werden. Hierbei seien auch die Bahnreisezeiten mitzuberücksichtigen und als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) mit einzuberechnen. Hiergegen wendete sich das Speditionsunternehmen mit dem Argument, die Mitarbeiter seien während der Fahrt in der Bahn in ihrer Freizeitgestaltung völlig frei. Die Anreise sei ein „Freizeitopfer“, welches die Mitarbeiter in Kauf nehmen müssten. Dieser Argumentation folgte das VG Lüneburg jedoch nicht (Urt. v. 02.05.2023, Az. 3 A 146/22).

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Was regelt das Arbeitszeitgesetz

Das ArbZG legt die Höchstgrenzen für die wöchentliche Arbeitszeit fest, ebenso wie die Pausen- und Ruhezeiten. Zweck ist der Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer. Dies ergibt sich aus § 1 ArbZG. Aus diesem Grund wird das Gesetz häufig auch Arbeitszeitschutzgesetz genannt. Grundsätzlich darf die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer acht Stunden nicht überschreiten (§ 3 ArbZG). Pro Woche darf ein Arbeitnehmer somit höchstens 48 Stunden arbeiten. Da jedem Arbeitnehmer mindestens vier Wochen Urlaub im Jahr zustehen, beläuft sich die jährliche Arbeitszeit auf 48 Wochen. Die Urlaubsregelungen ergeben sich wiederum aus dem Bundesurlaubsgesetz (BUrlG).

Ob auch Bahnfahrten als Arbeitszeit zu qualifizieren sind, hängt davon ab, ob es sich um eine Reise- oder Wegezeit handelt. Da sich diese Begriffe jedoch in keinem der Gesetze wiederfinden, ist eine klare Abgrenzung schwierig und kann nur anhand der bisherigen Rechtsprechung vorgenommen werden. Die Wegezeit betrifft danach die Strecke, die der Mitarbeiter täglich von seinem Wohnort zur regelmäßigen Arbeitsstätte zurücklegt. Diese wird nicht als Arbeitszeit qualifiziert. Reisezeit ist hingegen die Zeiten, die der Mitarbeiter auf Weisung des Arbeitgebers aufwendet, um sich an einen Ort außerhalb seines gewöhnlichen Arbeitsplatzes zu bewegen. Zählt die Reisezeit also zu den vertraglich geschuldeten Leistungspflichten des Arbeitnehmers, handelt es sich grundsätzlich um Arbeitszeit. Allerdings ist hier in der Regel eine Prüfung des konkreten Einzelfalls erforderlich. Hierfür wendet das Bundesarbeitsgerichts (BAG) die von ihm entwickelte Beanspruchungstheorie an, wonach Reisezeiten dann als Arbeitszeit eingestuft werden, wenn sie mit einer dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufenden Belastung des Arbeitnehmers einhergehen. So seien Bahnfahrten so lange nicht als Arbeitszeit zu qualifizieren, wie der Arbeitnehmer während der Reise keine zusätzlichen Tätigkeiten für den Arbeitgeber erbringt, etwa E-Mails abarbeitet.

EuGH: Arbeitszeit bei Einschränkung der Freizeit

Im vorliegenden Fall erforderten die einschlägigen europarechtlichen Grundlagen (Arbeitszeit-Richtlinie) jedoch eine von der gängigen Definition BAG abweichende Bestimmung des Begriffs der Arbeitszeit. Zwar gehe von der Bahnfahrt nicht zwingend eine gesundheitliche Belastung des Arbeitnehmers aus. Für die europarechtliche Begriffsbestimmung komme es jedoch maßgeblich darauf an, inwieweit der Freizeitwert des Arbeitnehmers von der geforderten Tätigkeit betroffen ist. Sofern der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt, sei demnach auch die Anreise zum und die Abreise vom Überführungsort als Arbeitszeit im Sinne des § 2 Abs. 1 ArbZG zu werten.

Im vorliegenden Fall führte das VG Lüneburg zur Begründung an, dass die regelmäßige mehrstündige An- und Abreise bereits Teil der Leistungserbringung sei. Außerdem beschränke es die Freiheit der Fahrer in dieser Zeit. Diese könnten nicht völlig selbstständig über ihren Zeitvertreib bestimmen. Die Fahrzeit sei im Fall des Speditionsunternehmens der Sphäre des Arbeitgebers zuzurechnen. Die Dauer der Bahnfahrt stehe nämlich nicht wie bei der Anreise zu einer festen Betriebsstätte zur Disposition des Arbeitnehmers. Vielmehr hänge sie davon ab, an welchen Ort das jeweilige Fahrzeug überführt werden solle. Auf die körperliche Belastung durch eine Reise komme es nicht an, sondern darauf, dass sich die Arbeitnehmer regelmäßig für lange Zeiten außerhalb ihres familiären und sozialen Umfelds aufhalten müssten.Die besonderen Vorschriften des deutschen und europäischen Rechts zur Arbeitszeit von Personen, die Fahrtätigkeiten im Bereich des Straßentransports ausübten, seien hier ebenfalls nicht anwendbar. Gegen das Urteil kann noch der Antrag auf Zulassung zur Berufung gestellt werden.

Bedeutet der vorliegende Fall jetzt, dass alle Dienstreisen in die Arbeitszeit fallen? Dem ist wohl nicht so. Pauschale Aussagen und Ableitungen sollten hier nicht vorschnell getroffen werden. Schließlich ist immer der konkrete Einzelfall zu bewerten. Es komme beispielsweise darauf an, in welchem Maße die Reisen tatsächlich einen entscheidenden Teil der Tätigkeit darstellen und wie diese im Einzelnen ausgestaltet sind. Je freier Arbeitnehmer die Reise gestalten dürfen, desto weniger wird davon ausgegangen werden können, dass es sich bei der Fahrt um Arbeitszeit handelt.

WBS hilft Ihnen!

Arbeitgebern ist zu empfehlen die korrekte Einordnung der Dienstreisen ihrer Mitarbeiter unter diesen Gesichtspunkten zu überprüfen. Bei Unsicherheiten ist es ratsam, auf die rechtliche Unterstützung eines auf diesem Gebiet spezialisierten Rechtsanwalts zurückzugreifen. Wir beraten Sie gerne umfassend zu allen rechtlichen Fragestellungen rund um das Arbeitsrecht und stehen Ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Kontaktieren Sie uns bei Beratungsbedarf jederzeit unter 0221 / 951 563 0 (Beratung bundesweit).

jvo/ezo