Ein aktuelles Urteil des LAG Niedersachsen bringt Bewegung in die Diskussion über die Arbeitszeiterfassung. Zwar besteht weiterhin keine nationale Regelung, doch wir empfehlen Unternehmen, sich bereits jetzt dringend mit dem Thema Zeiterfassung auseinanderzusetzen.

Das Arbeitsgericht (ArbG) Emden hatte entschieden, dass aus Art. 31 Abs. 2 Grundrechtecharta eine unmittelbare arbeitgeberseitige Pflicht zur Einführung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung folge (ArbG Emden, 09. November 2020 – 2 Ca 399/18). Verletze der Arbeitgeber diese Pflicht, bestehe für den Arbeitgeber die Gefahr, dass er im Falle der Geltendmachung von angeblichen Überstunden und Mehrarbeit im Vergütungsprozess in Beweisnot gerät. Aus § 618 Abs. 1 BGB folge in europarechtskonformer Auslegung eine arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Messung, Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen stellte sich nun im Berufungsverfahren gegen die Rechtsauffassung der Vorinstanz und stellte klar, dass Überstunden nur dann vergütet werden müssten, sofern diese vom Arbeitgeber angeordnet beziehungsweise geduldet würden oder diese zur Erledigung der Arbeit notwendig seien. Auch eine europarechtskonforme Auslegung lehnte das Landesarbeitsgericht (LAG) entgegen der Vorinstanz ab (LAG Niedersachsen vom 06.05.2021, Az.: 5 SA 1292/20).

Das Verfahren vor dem Arbeitsgericht Emden

Der Kläger war bei der Beklagten als Auslieferungsfahrer beschäftigt. Er begehrte die Vergütung geleisteter Überstunden und verwies auf technische Aufzeichnungen innerhalb des Betriebes. Zwischen den Parteien war jedoch streitig, ob diese Aufzeichnungen zur Erfassung der Arbeitszeit bestimmt waren und dafür auch genutzt wurden. Das Arbeitsgericht Emden entschied zugunsten des Klägers.

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Es begründete seine Entscheidung damit, dass § 618 BGB europarechtskonform auszulegen sei: Arbeitgeber hätten grundsätzlich Schutzmaßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit der Beschäftigten zu ergreifen. Die Erfassung der Arbeitszeit fiele unter diese Schutzpflicht. Begründet hatte das Arbeitsgericht seine Auffassung mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH vom 14.05.2019 – Az.: C-55/18, Rechtssache „CCOO“). Der Europäische Gerichtshof hatte mit dieser wegweisenden Entscheidung geurteilt, dass Arbeitgeber durch die jeweiligen Mitgliedstatten verpflichtet werden müssen, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter einzuführen. Die Beklagte stellte im vorliegenden Fall keine technischen Einrichtungen zur Verfügung, um die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten zu erfassen, es wurde grundsätzlich auf Vertrauensbasis gearbeitet.  Da die Beklagte ihrer Verpflichtung nach ihrem eigenen Vortrag nicht nachgekommen sei, reichten die vorgelegten technischen Aufzeichnungen als Indiz für die geleistete Arbeitszeit, so das Gericht.

EuGH darf in der Sache nicht entscheiden

Das LAG lehnte die Begründung der Vorinstanz nun ab. Dem EuGH stünde keine Kompetenz zur Entscheidung über Fragen der Vergütung zu. Dies ergebe sich aus Art. 153 Abs. 5 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (EUV). Die Entscheidung des EuGH könne somit keinen Einfluss auf die Streitfrage haben, wen die Darlegungs- und Beweislast bei Überstunden treffe. Somit nahm das LAG Niedersachsen dem Arbeitsgericht Emden die Grundlage seiner Begründung.

Keine ausreichende Darlegung der Überstunden

Ein Anspruch auf Vergütung der Überstunden bestehe im vorliegenden Fall nicht, so das LAG. Der Kläger habe die Voraussetzungen für diesen Anspruch nicht klar dargelegt. Im Übrigen sei auch keine Anordnung des Arbeitgebers oder eine betriebliche Notwendigkeit ersichtlich, die etwaige Überstunden rechtfertigen könnten. Von einer Billigung oder Duldung der Leistung von Überstunden durch den Arbeitgeber könne ebenfalls nicht ausgegangen werden.

Das LAG betonte insbesondere, dass eine betriebliche Notwendigkeit nicht bejaht werden könne; es sei nicht ersichtlich, welche Arbeiten der Kläger an den Arbeitstagen geleistet hatte und weshalb diese Arbeit nur mittels Mehrarbeit zu bewältigen gewesen sein sollte.

Sofern eine Anordnung von Mehrarbeit arbeitnehmerseitig behauptet würde, habe dieser vorzubringen, wer wann und in welcher Weise diese Anordnung getroffen habe.

Zuletzt lehnte das LAG auch eine Billigung oder Duldung der Leistung von Überstunden durch die Beklagte ab. Die Anwesenheit eines Arbeitnehmers an seinem Arbeitsort reiche nicht dafür aus, den Beweis zu erbringen, dass Überstunden von Nöten gewesen seien. Es sei vielmehr eine deutliche Kommunikation seitens des Arbeitgebers erforderlich, dass Überstunden gebilligt würden. Vorliegend sah das LAG keine Anhaltspunkte für eine Duldung durch die Beklagte.

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Ausblick für die Praxis

Das LAG Niedersachsen hat – einstweilen – das Verständnis des Bundesarbeitsgerichts von der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess wieder hergestellt (vgl. v.a. BAG, Urt. v. 10.04.2013, 5 AZR 122/12) nachdem das Arbeitsgericht Emden diese Grundsätze in mehreren Entscheidungen unter Hinweis auf das „Arbeitszeit-Urteil“ des EuGH in Frage gestellt hatte. Bereits im Frühjahr 2020 hatte das Arbeitsgericht Emden rechtskräftig entschieden, dass Arbeitgeber dazu verpflichtet seien, ein System zur Erfassung von Arbeitsstunden einzuführen (ArbG Emden vom 20.02.2020 – Az.: 2 Ca 94/19). Da das LAG die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen hat bleibt abzuwarten, wie das Bundesarbeitsgericht entscheiden wird.
Ungeachtet dessen hat sich die Bundesregierung in der laufenden Legislaturperiode weiterhin nicht zu der Frage der Umsetzung des EuGH-Urteils vom 14. Mai 2019 positioniert. Damit lässt der Gesetzgeber die Fragen der Praxis unbeantwortet, ob, wann und in welcher Weise die unionsrechtlichen Pflichten zur Dokumentation der Arbeitszeit in der betrieblichen Praxis umgesetzt werden sollen. Bedeutsam ist dies vor allem im Bereich der Vertrauensarbeitszeit.

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