Ein Autofahrer darf sich nicht immer darauf verlassen, dass ein Fußgänger ihn auf einer zweigeteilten Fahrbahn vorbeilässt. Das sei insbesondere dann der Fall, wenn Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass der Fahrer an einem verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zweifeln musste, so der BGH.

Am 07.06.2014 hatte ein Fußgänger eine Brücke von der linken Gehwegseite aus überquert. Dabei kollidierte er mit dem Auto des beklagten Fahrers auf der rechten Fahrbahn. Der Passant war dabei erheblich verletzt worden. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nun darüber entschieden, inwiefern eine Sorgfaltspflicht aus der Straßenverkehrsordnung durch die Parteien verletzt worden war (BGH, Urt. v. 04.04.2023, Az. VI ZR 11/21).

Die Aussagen der Beteiligten gingen hierbei auseinander. So behauptete der Verletzte, er habe die Fahrbahn mit normaler Geschwindigkeit überquert und der Autofahrer habe erst nach der Kollision angefangen zu bremsen. Der Autofahrer war hingegen der Auffassung, der Fußgänger habe die Fahrbahn rennend überquert und sei unmittelbar hinter einem Lieferwagen ohne anzuhalten auf die Fahrbahn gelaufen. Sowohl bei dem Landgericht (LG) Berlin, als auch dem Kammergericht Berlin scheiterte die Klage des Fußgängers auf Schadensersatz. Die Gerichte verwiesen darauf, dass der Fußgänger die verkehrserforderlichen Sorgfaltspflichten nicht eingehalten habe. Danach hätte er vor der Überquerung der Fahrbahn den bevorrechtigten Fahrzeugverkehr achten und ihm den Vorrang geben müssen.

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BGH sieht den Vertrauensgrundsatz zu weit ausgelegt

Der BGH beurteilte den Fall anders. Das LG Berlin habe zwar zu Recht ein unfallursächliches Verschulden des Autofahrers verneint. Dieser hätte nicht damit rechnen müssen, dass ein Fußgänger seinen Weg über die Fahrbahn fortsetzt, obwohl das Fahrzeug bereits in der Nähe ist. Auch sei er nicht zu schnell gefahren oder habe gegen eine allgemeine Sorgfaltspflicht verstoßen. Die allgemeine Sorgfaltspflicht umfasst nach der Straßenverkehrsordnung ein solches Verhalten, durch das kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen vermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Allerdings sei der Vertrauensgrundsatz von dem LG zu weit gesehen worden. Der Vertrauensgrundsatz besagt, dass grundsätzlich jeder Verkehrsteilnehmer im Straßenverkehr darauf vertrauen darf, dass andere Personen die maßgeblichen Rechtsvorschriften befolgen. Das bedeutet auch, dass Autofahrer am Fahrbahnrand befindliche oder vor ihm die Fahrbahn überquerende Fußgänger im Auge behalten und in seiner Fahrweise erkennbaren Gefährdungen Rechnung tragen müssen. Daraus resultiert eine Reaktionspflicht, wenn erkannt wird, dass sich andere Verkehrsteilnehmer nicht verkehrsgerecht verhalten.

Maßgeblicher Zeitpunkt der Reaktionspflicht

Vorliegend hätte der Autofahrer nicht in jedem Fall darauf vertrauen dürfen, dass der Fußgänger sich verkehrsgerecht verhält und ihm den Vorrang einräumt, auch, wenn er erwachsen und nicht sichtlich beeinträchtigt gewesen sei. Der Autofahrer hätte demnach nicht erst dann reagieren dürfen, als der Fußgänger bereits auf seiner Fahrbahn angelangt war. Dies sei vor allem anzunehmen, weil der Fußgänger die Brücke rennend überquert habe. So sei nicht auf den Zeitpunkt abzustellen, als der Kläger den Mittelstreifen überquerte, sondern vielmehr der Zeitpunkt maßgeblich, als der Fußgänger die Fahrbahn erstmals betreten habe. Da der Fußgänger nicht langsamer wurde, hätte der Autofahrer erkennen müssen, dass der Fußgänger nicht abrupt stoppen, sondern dem Autofahrer den Vorrang nehmen würde. Er hätte somit an einem verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zweifeln müssen.

Zu berücksichtigen war jedoch auch ein Mitverschuldend des Fußgängers in Höhe von 50%. Zumindest in dieser Höhe bekam er jedoch vom Gericht einen materiellen und immateriellen Schadensersatz zugesprochen.

jvo/ezo

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